2017 fuhr ich mit 3 Freunden anlässlich der «Druschba Friedensfahrt» mit dem Auto von Berlin quer durch Russland bis nach Grosny in Tschetschenien, um einen Eindruck von Land und Leuten zu bekommen. Es gab viele unvergessliche Momente, etwa der Grenzübergang in die kalmückische Republik, sie ist Teil des Vielvölkerstaats Russland. An der Grenze ist ein Riesenplakat des Dalai Lama aufgestellt, mit dem Satz «Om mani padme hum» in kyrillischer Schrift, denn der Dalai Lama ist das geistliche Oberhaupt der Republik. Manchmal wähnte ich mich in Tibet, das ich von einer Expeditionsreise für das ZDF ziemlich gut kenne. Die Menschen dort sahen aus wie Tibeter und mir fiel besonders auf, dass sie lachten wie Tibeter. Aber besonders beeindruckt hat mich ein Zwischenstop in Dagestan, wo wir nach vielen Stunden einer ereignislosen Autofahrt auf schnurgeraden Straßen durch eine scheinbar endlose Steppe bei einer älteren Dame in ihrem kleinen Straßenrestaurant Rast machten. Sie bewirtete uns so herzlich und freundlich, wie die meisten Russen damals noch zu Deutschen waren.
An einem der Stühle in dem neonhellen und pflegeleicht eingerichteten Gasthof direkt neben einer Rinder-Kolchose, so stand es auf einem Schild, saß ein etwa 60 jähriger sonnenverbrannter Mann, dem einige Zähne fehlten, er sah etwas ramponiert aus. Er gehörte augenscheinlich zur Kolchose. Ein russischer Cowboy sozusagen. Er winkte mich zu sich heran und fragte mich, ob ich Deutscher sei. «Ja». Ob ich mich mit der deutschen Geschichte auskenne. «Ja, schon». Ob ich mich auch mit der Geschichte des Kalten Krieges auskenne? «Ja, das ist sogar mein Fachgebiet.» Er musterte mich aufmerksam.
«Dann sagen Sie mir doch bitte, warum die Deutschen glauben, dass die Amerikaner ausgerechnet mit ihnen, und dann auch noch als Einzigen auf der Welt, etwas Gutes vorhaben?»
Ich war sprachlos. Es dauerte einige gefühlt sehr lange Sekunden, bis ich antworteten konnte:
«Das ist, glaube ich, die klügste Frage, die ich in den letzten 20 Jahren gehört habe.»
Gleichzeitig dachte ich: Und das ausgerechnet von einem Kuhhirten in der Mitte von Nirgendwo in der russischen Steppe. Ich schämte mich ein wenig, es war eine erneute Lektion, die Bildung der Russen, insbesondere der älteren, nie zu unterschätzen.
Der Kuhhirte war mit dieser Antwort nicht zufrieden.
«Danke. Aber was ist ihre Antwort? Warum ist das so?.»
Ich hatte keine schlaue Antwort.
«Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Ich weiß es nicht.»
Er nickte enttäuscht. Ich war beschämt.
Die Frage des klugen Kuhhirten aus Dagestan hat mich seitdem umgetrieben, und sie hat in den letzten Wochen neue, ungeahnte Bedeutung erhalten. Die Zerstörung der Nordstream Pipelines, das angestrengte Wegsehen der deutschen Politik und der Medien angesichts der Veröffentlichung von Seymour Hersh erinnert an absurdes Theater. Oder an einen Ehemann, der seine Frau mit einem Liebhaber im Bett erwischt und versucht, so zu tun, als ob er nichts gesehen habe, weil der Mann im Bett sein Chef ist und er die Konsequenzen fürchtet, die sich aus einem Protest ergeben könnten.
Olaf Scholz wurde am 7. Februar 2022 von US Präsident Biden öffentlich gedemütigt, als der neben ihm erklärte, wenn Russland in die Ukraine einmarschiere, werde es Nordstream 2 nicht mehr geben. Auf die Frage einer Journalistin, wie er das erreichen wolle, die Pipeline sei doch ein deutsches Projekt, antwortete Biden: «Ich verspreche ihnen, dass wir das schaffen werden.» Scholz hat es sich gefallen lassen. Er glaubte wohl, keine andere Wahl zu haben, aber damit beschädigt er das Ansehen und den Einfluss Deutschlands in der Welt. Und er lässt zu, dass mit der Zerstörung der Pipeline, die Grundlage der Wirtschaftskraft seines Landes zerstört wird, dessen Geschäftsmodell die Herstellung wertvoller Waren mit Hilfe billiger Energie ist. Gleichzeitig werden die Beziehungen zu Russland und in den eurasischen Raum demoliert. Das ist im Interesse der USA, aber nicht im deutschen Interesse. Es gibt keinen «Freien Westen» mit identischen Interessen aller Mitglieder. Offenbar hat die US Regierung nichts Gutes mit Deutschland vor. Aber die Deutschen drücken sich mit Macht um diese Erkenntnis herum. Nicht nur die Deutschen.
Schweden, das NATO Mitglied werden will, hat den Nordstream Tatort untersucht, er liegt in seinen Hoheitsgewässern. Es will die Ergebnisse lieber nicht veröffentlichen. Das Land hat sich in Sachen Untersuchungsausschüsse, etwa beim Palme Mord, dem Estonia-Untergang, dem Mord an Dag Hammarskjöld oder den ersten zwei von 3 Untersuchungsausschüssen zur schwedischen U-Boot Affäre nicht mit Ruhm bekleckert. Anders als in Italien, wo Untersuchungsrichter mit Autobomben gestoppt werden müssen, wenn sie der Wahrheit zu nahe kommen, braucht in Schweden kein Täter mit hegemonialem Hintergrund Angst vor dem Aufklärungswillen entschlossener Ermittler zu haben. Jetzt hat das Land sogar seine Verfassung geändert. Seit November 2022, also zwei Monate nach dem Anschlag auf Nordstream 2 und den schwedischen Ermittlungen dazu macht sich strafbar, wer Informationen weitergibt, die die Beziehung Schwedens zu anderen Nationen oder Organisationen wie UNO oder NATO schwächen können. Whistleblower oder Medien können jetzt wegen Auslandsspionage angeklagt werden. Das ist so erbärmlich, dass man es als «typisch deutsch» bezeichnen könnte.
Denn in Deutschland wollte Sahra Wagenknecht drei Wochen nach dem Anschlag wissen, welche Erkenntnisse der Bundesregierung vorlägen und welche Maßnahmen sie eigenständig, mit der EU oder der NATO eingeleitet habe. Immerhin ermittelte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wegen eines «schweren gewalttätigen Sabotage-Angriffs auf die Energieversorgung». Der feige und verbrecherische Terroranschlag auf Nordstream 2, so würde er wohl genannt werden, wenn man Russland als Täter belasten könnte, ist ein Kriegsakt gegen die Bundesrepublik, sie könnte eigentlich nach NATO Artikel 5 den Bündnisfall ausrufen, so wie die USA nach 9/11, aber das ist natürlich problematisch, wenn der Angreifer und die angegriffene Nation beide NATO Mitglieder sind. Da käme eigentlich nur der Austritt aus der NATO in Frage, sowie weitere harte Maßnahmen.
Dementsprechend fiel die Antwort an Sahra Wagenknecht aus: Die Bundesregierung sei «nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass weitere Auskünfte aus Gründen des Staatswohls nicht – auch nicht in eingestufter Form – erteilt werden können.» Der Grund sei die «Third-Party-Rule» für internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste. Nach dieser Abmachung unterliege der internationale Erkenntnisaustausch strenger Geheimhaltung. «Die erbetenen Informationen berühren somit derart schutzbedürftige Geheimhaltungsinteressen, dass das Staatswohl gegenüber dem parlamentarischen Informationsrecht überwiegt und das Fragerecht der Abgeordneten ausnahmsweise gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung zurückstehen muss.»
Nach der Veröffentlichung von Seymour Hersh beschäftigten sich Spiegel, Tagesschau, Süddeutsche und andere Medien nicht mit seinen Rechercheergebnissen, sondern vor allem damit, ihn mit Dreck zu bewerfen, in der Hoffnung, dass irgendetwas hängenbliebe. So war das auch, als Hersh das My Lai Massaker aufdeckte, die geheime Bombardierung Kambodschas, die CIA Operation Jennifer, also die Bergung eines gesunkenen sowjetischen U Bootes aus 5 Kilometern Tiefe, die illegalen Operationen der CIA gegen Vietnamkriegsgegner in den USA, die Mordplanungen der CIA gegen ausländische Staatsmänner, die Verwicklung der USA in den Putsch gegen Allende in Chile, Israels Atomwaffenprogramm, die Finanzierung von Al Kaida durch die Saudis und die Folter in Abu Ghraibh, um einige seiner Scoops zu nennen.
Es sind also nicht nur die Fälle Julian Assange, Edward Snowden, Michael Hastings oder Gary Webb, die beweisen, dass die Exekutoren des Wertewestens einfach nicht so in die Presse- und Redefreiheit verknallt sind, wie sie vortäuschen. Es ist auch der Fall Seymour Hersh, der seine Artikel mittlerweile wie Glenn Greenwald oder Matt Taibbi auf der Autorenplattform Substack mit einem Spendenaufruf veröffentlichen muss, weil die New York Times, die Washington Post, der New Yorker oder The Atlantic dafür nicht mehr zur Verfügung stehen. Man kann sagen, die US Konzernmedien im allgemeinen haben eine bewundernswerte Vergangenheit zu bieten.
Man kann sagen, dass der Wertewesten und Deutschland in den Führungsetagen oft ein sehr kreatives Verhältnis zur Wahrheit haben und dort schon beim Zuhören gelogen wird. Der Begriff Imperium der Lüge trifft es ziemlich gut. Warum sind wir so dienstbereit?
Es ist nicht förderlich für selbstständiges und unabhängiges Denken, wenn die Angehörigen der deutschen Eliten in Politik und Medien nahezu ausnahmslos unter der Atlantikbrücke kampieren, es aber keine vergleichbaren Verbindungen nach China, Russland, Indien, Brasilien, Südafrika oder dem Iran gibt.
Den außenpolitischen Interessen der USA zu dienen – und koste es die eigene wirtschaftliche Existenz – ist keine zukunftsfähige Politik. Sicher, sie hilft den Mitgliedern der politischen und medialen Elite mit ihren Anbindungen an die US-Thinktanks Posten in den europäischen und deutschen Apparaten zu ergattern. Die bestehen fast ausschließlich aus Vertretern dieser Spezies, die darüber hinaus zuverlässig dissidente Denker per Cancel Culture eliminieren. All das ist Opportunismus und Verantwortungslosigkeit, aber keine Strategie.
Die RAND Corporation, einer der einflussreichsten Think-Tanks der USA, hat jetzt ein Papier veröffentlicht, über das deutsche Journalisten lieber schweigen. Es trägt den Titel: Avoiding a long war. US policy and the trajectory of the Russia Ukraine conflict (Einen langen Krieg vermeiden. US-Politik und der Verlauf des Russland-Ukraine-Konfliktes). Die RAND Corporation hatte bereits 2019 mit ihrer Studie «Extending Russia» (Russland überdehnen) das Drehbuch für die Kriegspolitik der USA gegen Russland geschrieben. Denn dieser Krieg, in dem Russland angegriffen hat, war keineswegs «unprovoziert», im Gegenteil, es wurde von Seiten des Westens nichts unternommen, um ihn zu verhindern – im Gegenteil.
Der entscheidende Satz im aktuellen Papier lautet: «Die Kosten und Risiken eines langen Krieges in der Ukraine sind erheblich und sie überwiegen die möglichen Vorteile für die Vereinigten Staaten.» Die Analyse hat sich anscheinend geändert. Noch vor einem halben Jahr war der Plan der USA und ihrer NATO-Vasallen, Russland mit Sanktionen zu ruinieren und so einen Regime Change herbeizuführen. Danach sollte Russland in mehrere neue Staaten aufgeteilt werden, eine Jugoslawisierung, die als Dekolonialisierung bezeichnet wird.
Der nüchterne Bericht der RAND Corporation belegt, dass Geo-Strategen in den USA in der Lage sind, Tatsachen zu erfassen und treffende Analysen zu schreiben, entsprechend der US Interessen. In Europa und insbesondere Deutschland wird geostrategisches Denken als Verschwörungsideologie denunziert, bereits der Versuch ist strafbar.
Die Antwort, die ich dem klugen Cowboy aus Dagestan heute geben würde, lautet: Es liegt an der Abwesenheit eines lebendigen Geisteslebens, an der mangelnden Wahrheitsliebe, zu der Mut untrennbar gehört, an fehlender geopolitischer Analysefähigkeit. an einer spezifischen Variante eines dummen außenpolitischen Moralismus, der aus einer fehlgeschlagenen Bearbeitung der deutschen Zivilisationsverbrechen entstanden ist. Wie fehlgeschlagen, belegt die Unterstützung der deutschen Politik für die «sozialnationalistischen» Rechtsextremen in der Ukraine, die Nutzung des Nazikollaborateur Slogans «Slava Unkraina», durch deutsche Politiker von CDU, SPD und Grünen, oder die Äußerung von Außenministerin Baerbock in einem Gespräch vor dem US Atlantic Council, in dem es um den «Transatlantic Green Deal» und die «Deutschen Strategien gegen Russland und China» ging. Der Interviewer Fareed Zakaria merkte an, dass Joschka Fischer einst Molotowcocktails auf Demonstrationen gegen die USA geworfen hätte, bevor er ein proamerikanischer NATO Unterstützer wurde. Baerbock antwortete, dass sie sich an die Osterweiterung der EU 2004 erinnere, wie sie an der Grenze zu Polen auf einer Brücke an der Oder stand. «Mein eigener Großvater kämpfte im Winter 1945 an diesem Fluss, an dieser Grenze... Und das war wirklich der Moment, wo ich dachte, wow, wir stehen nicht nur auf den Schultern von Joschka Fischer, sondern auch auf den Schultern unseren Großeltern, die es möglich gemacht haben, dass verfeindete Länder wieder nicht nur in Frieden, sondern in Freundschaft zusammen existieren.» Gleichzeitig wird nicht bemerkt, dass auch nach dem Ende des Kommunismus und der Einführung des Kapitalismus Russland immer noch und immer wieder der Erbfeind sein soll. Offenbar ist das politische System in Russland nicht mehr, wie im Kalten Krieg gebetsmühlenartig wiederholt wurde, der entscheidende Unterschied. Hängt die Beurteilung Russlands etwa mit geopolitischen Interessen zusammen? Sind sie in Wahrheit der wesentliche Faktor? Und verhindert die Abwesenheit solcher Gedankengänge am Ende sogar eine zutreffende Analyse, welchen Interessen die dumme, derzeitige deutsche Außenpolitik dient?
Ein vorurteilsfreier Blick auf die Landkarte beweist: Deutschland ist Teil Mitteleuropas und Europa ist Teil des eurasischen Kontinents. Wir sind von Nordamerika weiter entfernt, als wir glauben. Russland ist uns nah. China ist in Reichweite. Das sind wesentliche und zukunftsträchtige Erkenntnisse.
Ich bin dem Kuhhirten aus Dagestan zu großem Dank verpflichtet.